Am 13.06.2024 hatte der Stadtverband und die Fraktion der Grünen in Pohlheim Expertinnen für frühkindliche Bildung an ihrem monatlichen Stammtisch „Ins Gespräch kommen“ zu Gast.
Frau Dr. Marina Lagemann, bekannt für ihre bundesweite Studie „Psychosoziale Belastung und Kinderschutz in der Kita – Fachkräfte schauen hin!“ in Kooperation mit der Bertelsmann Stiftung und der Justus-Liebig-Universität in Gießen (JLU) und zwei Vertreterinnen aus dem Vorstand des Kita-Fachkräfte-Verbandes in Hessen, Verena König und Asja Linke, beide in Kitas beschäftigt, formulierten an diesem Abend viele Notwendigkeiten des politischen Handelns, um die Situation für die Kinder und für das Personal in den KiTas zu verbessern.
Neben den geladenen Gästen waren noch weitere Wissenschaftlerinnen der JLU in Gießen, sowie Expertinnen aus dem Bereich anwesend, wie eine Fachlehrerin in der Erzieherinnenausbildung an der beruflichen Schule, Sozialpädagoginnen aus Einrichtungen der Stadt Gießen und aus dem Pakt für den Ganztag des Landkreises Gießen, KiTa-Leitung und Grundschullehrer.
In einer intensiven und kurzweiligen Diskussion wurde die fachwissenschaftliche Sicht der anwesenden Expertinnen auf die aktuelle Situation in den KiTas sehr deutlich gemacht und Notwendigkeiten an die anwesenden Kommunalpolitikerinnen formuliert, deren Umsetzung zu einer Verbesserung beitragen würden.
- Als Einstiegsthese wurde zuallererst geäußert, dass die Bedingungen in den Kitas – unter anderem bedingt durch chronischen Fachkräftemangel – dazu führen, dass sich der Fachkräftemangel verstärkt. Vor allem die Absolventinnen des Studienganges Kindheitspädagogik an der JLU, die für Arbeit in den Kitas ausgebildet werden, münden häufig nicht in den Beruf ein, weil sie sich von der Arbeit in den KiTas, oftmals bereits nach ersten Praxiserfahrungen im Studium, ab- und sich anderen Tätigkeitsfeldern zuwenden. Sie machen regelmäßig die Erfahrung, dass das im Studium Erlernte aufgrund der mangelhaften Rahmenbedingungen nur sehr bedingt angewendet werden kann und professionelles Handeln häufig nicht mehr möglich ist.
- Wichtig ist, dass Elternbeiräte und Fachkräfte in den Kommunen gehört werden, und zwar mit dem, was sie wirklich zu sagen haben. Die Etablierung eines unabhängigen Beschwerdesystems ist hilfreich, damit Eltern und Fachkräfte mit berechtigten Beschwerden zu ihrem Recht kommen und die Rechte der Kinder schützen können, ohne dass sie in der Hierarchie der Kommunen untergehen.
- Ein echtes Beschwerdewesen wird aus fachwissenschaftlicher Sicht, durch den Passus „Wenn das Vertrauensverhältnis zerrüttet ist, besteht ein Kündigungsrecht auf Seiten der Kommune“ in den Betreuungsverträgen erschwert. Das außerordentliche Kündigungsrecht für die Kommune macht es Eltern schwer, Beschwerde zu führen, aus Angst, den Betreuungsplatz zu verlieren. Gleichzeitig müssen aber auch die Mitarbeiterinnen in den Einrichtungen vor übergriffigem Verhalten geschützt sein. Hier gilt es einen verantwortungsvollen Umgang zu finden und den Passus nicht auszunutzen.
- Die anwesenden Expertinnen fordern klar eine an wissenschaftliche Erkenntnis angepasste Fachkraft-Kind-Relation: im U3-Bereich bedeutet das 1:3, im Ü3 Bereich 1:7. In Hessen ist dieser Schlüssel im Durchschnitt überschritten. Insbesondere Urlaub und/oder Krankheit tragen dann noch dazu bei, dass mitunter prekäre Betreuungsverhältnisse entstehen können. Diese Verhältnisse erschweren es, den Kindern mit der zwingend notwendigen Feinfühligkeit zu begegnen, Bindungsverhalten zu ermöglichen und das Risiko von entwicklungsschädlichen Auswirkungen auf die Kinder durch nicht kindgerechtes Arbeiten in den KiTas zu verringern.
- Im Berufsalltag verankerte Vorbereitungszeiten sind immer noch kein Standard, geschweige denn Zeiten für Fallreflektionen, Supervision und Teamgespräche. Diese „kinderfreien“ Zeiten für die Fachkräfte müssen oft genug gegen Widerstände durchgesetzt und verteidigt werden. Nach wie vor herrscht wenig Bewusstheit in der Gesellschaft darüber, wie notwendig diese Zeiten im pädagogischen Bereich für eine qualitativ hochwertige Arbeit auch in KiTas sind.
- Es fehlt ein öffentlicher Diskurs darüber, was für eine Qualität in den KiTas denn herrschen soll. Nach wie vor wird die KiTa nicht als Bildungseinrichtung wahrgenommen. Dabei kann gerade im Elementarbereich präventiv so viel erreicht werden, was in späteren Lebensaltern nur mit wesentlich erhöhtem pädagogischem Aufwand erreicht wird (bspw. Sprachfähigkeiten verbessern, Entwicklungshemmnisse und -beeinträchtigungen mindern). Eine hohe frühkindliche Bildung- und Betreuungsqualität bietet für die Gesamtgesellschaft so viele Chancen (und bei schlechter Qualität eben auch Risiken), so dass alle Anwesenden der Meinung waren, es wird am falschen Ende des Bildungssystems gespart. Im gesamten Bildungssystem fehlt Geld, im Elementarbereich allerdings besonders.
- Es müssen Strukturen geschaffen werden, in denen die Verantwortung für das Kinderwohl übernommen wird. Es wird berichtet, dass Meldungen zum Verdacht auf Kindeswohlgefährdung und Beeinträchtigungen der kindlichen Entwicklung durch die gegebenen Umstände oftmals nicht ernstgenommen und entsprechend nicht weitergegeben werden. Es fehlt eine wirkliche Auseinandersetzung und Bewußtheit darüber, wie elementar wichtig Feinfühligkeit, Achtsamkeit und Zuverlässigkeit für Kinder ist, damit sie sich gut entwickeln können und wie groß die Verantwortung der Fachkräfte ist, dieses zu gewährleisten – und ob bzw. wie dies in einer chronischen Mangelsituation überhaupt leistbar ist.
- Ein wichtiger Baustein für das Gelingen, der von allen anwesenden Expertinnen betont wurde, ist die Transparenz zwischen Eltern, Fachkräften und Kommunen. Eltern sollten über Personalausfälle informiert werden, damit sie die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden, ob sie ihr Kind in einer akuten Mangelsituation betreuen lassen möchten. KiTas sollten offen und ehrlich darüber informieren dürfen, wenn Angebote ausfallen müssen und Tagesstrukturen geändert werden (wenn bspw. der Mittagsschlaf aktuell nicht ermöglicht werden kann), damit Eltern entsprechend handeln können.
- Der Personalbedarf darf nicht durch ungelernte Kräfte gedeckt werden. Besonders kritisch wird der Einsatz von Eltern im Gruppendienst gesehen. Es herrscht Konsens darüber, dass eine hochwertige Ausbildung für den Einsatz im Bereich der Kindertagesstätten das A und O ist, um den Kindern gute Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten und die KiTa nicht als reine Betreuungs- bzw. Verwahrungsanstalt zu nutzen.
Zur Forschung von Dr Marina Lagemann: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/regelmaessige-ueberlastung-durch-personelle-unterbesetzung
Kita-Fachkräfte-Verband Hessen: https://kfvhessen.org/
